Linz war immer blass. Die Konturen der Stadt verloren sich in den siebziger und achtziger Jahren täglich in einer stickigen Kuppel aus Ruß, die sich vom Pöstlingberg ausgehend über die Skyline aus Industriebauten und Kirchtürmen spannte. Selbst die Reime knirschten: „In Linz, da stinkt’s“ avancierte zur Trademark einer 240.000 Einwohner-Stadt. Linz provozierte keine positiven Emotionen.
Die oberösterreichische Landeshauptstadt ist ein Beispiel, dass Geld nicht glücklich macht. Im Dunstkreis der Stahlöfen und der Stickstoffwerke emanzipierte sich eine Klein- und Mittelindustrie, die vielen Menschen Arbeit und manchen Leuten Reichtum bringt. Linz war und ist eine reiche Stadt – nur war sie in der Vergangenheit den wenigsten Heimat. Von 180.000 Arbeitern und Angestellten pendeln 95.000 täglich an ihren Arbeitsplatz – eine Autolawine, die sich anteilsmäßig über Jahrzehnte kaum verändert hat.
Die Distanz der Linzer zur eigenen Stadt beunruhigte die Politiker. In einer Umfrage im Auftrag des Rathauses schätzten Anfang der achtziger Jahre weniger als zwei Drittel der Linzer das Image ihrer Stadt als „gut“ ein, ein Wert, der ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit der eigenen Situation beinhaltete. Die Männer im neuen Rathaus an der Nibelungenbrücke begannen zu grübeln. Siegbert Janko, seit zehn Jahren als Kulturdirektor oberster Beamter der Linzer Szene und emeritiertes Mitglied der jungen Wilden innerhalb der oberösterreichischen SPÖ, skizziert die Situation Mitte der achtziger Jahre: „Linz kämpfte mit dem Selbstverständnis der dreckigen Stahlstadt. Kunst und Kultur waren für uns bewusst gewählte Wege, der Stadt ein zukunftsorientiertes Identifikationsmerkmal zu verpassen.“
Zu Beginn der Ära von Bürgermeister Franz Dobusch 1987 konnte Linz auf eine lose Aneinanderreihung von kulturellen Großereignissen verweisen. 1977 startete das Forum Metall ein Feuerwerk an kulturellen Großereignissen, die ab 1979 einen jährlichen Dreh- und Angelpunkt in der Ars Electronica fanden. Bei aller elitärer Programmplanung wurde auch des kulturellen Fußvolks gedacht: Seit dem Beginn der achtziger Jahre wird die „Klangwolke“ alljährlich in Szene gesetzt, die mit dem Mix aus Brucknersymphonie, Lasershow und Bratwurstbude regelmäßig mehr als 100.000 Zuschauer an die Ufer der Donau lockte. Diesen Großerereignissen fehlte zum Bedauern der damals neuen Rathausherrn allerdings die Energie, in der Stadt eine Initialzündung für eine lebende Kultur- und Kunstszene in Gang zu setzen. Das Linzer Image war immer noch eine amorphe Angelegenheit aus Verstaatlichten-Pleite und einer Prise Brucknerhaus. Kulturmanagement schien angesagt.
Szene ohne Bildungsbürger
Heute werden in Linz zwischen Frühjahr und Herbst über 140 Open-Air-Veranstaltungen über die Bühne gebracht. Die Stadt verfügt mit dem Phönix-Theater eine freie Bühne, die durch Uraufführungen von Linzer Autoren und Neuinszenierungen von Klassikern selbst das Landestheater aus einer 15jährigen Agonie zu reißen vermochte. Die oberösterreichische Kapitale erringt mit dem Prix Ars Electronica (Dotation 1997: 1,25 Millionen Schilling) und dem dazugehörigen Festival Aufmerksamkeit aus sämtlichen High-Tech-Zentren zwischen Tokio und New York. Und Linz hat heute eine Luft, die es zu atmen lohnt.
Peter Androsch, 34jähriger Komponist moderner E-Musik (Oper „Geschnitzte Heiligkeit-Anton Bruckner und die Frauen“, „Die Achse des Ofens“, Filmmusik zu Andreas Grubers „Die Hasenjagd“) greift angesichts der Veränderung seiner Stadt ins soziologische Nähkästchen: „Linz war immer eine Hackler-Stadt. Das Fehlen eines konservativen Bildungsbürgertums hat die Entwicklung einer Linzer Hochkultur lange verhindert, lässt auf der anderen Seite aber Raum und Mittel für die neuen Formen der Kunst.“ Die automatische Drainage des städtischen Kulturbudgets durch philharmonisches Elitedenken findet in Linz mangels Eliten nur beschränkt statt. Von den 544 Millionen Schilling des Linzer Kulturbudgets können die Verantwortlichen rund 30 Millionen jährlich in den Ankauf neuer Werke oder die Organisation frischer Festivals frei investieren.
Die generelle Marschrichtung der Millionenbeträge stößt – in einem Kulturbetrieb ungewöhnlich – auf wenig Kritik. Für den Schriftsteller und Dramaturgen Thomas Baum („Kalte Hände“, „HJ“) wäre es „sinnlos, mit irgendwelchen traditionellen Megafesten in Konkurrenz mit Salzburg oder Wien zu treten. Die Positionierung der Stadt außerhalb der herkömmlichen Pfade der Hochkultur macht Sinn, selbst wenn die Ars Electronica als sehr abgehoben empfunden werden kann.“ Siegbert Janko: „Mit dem Technologiethema nähern wir uns dem Kulturbereich auf eine Art, die für Linz die meiste Glaubwürdigkeit besitzt.“
Der jüngste Höhepunkt in der Etablierung der Donaustadt als Drehscheibe von Kunst und Computer ist das Ars Electronica Center (AEC), das vergangenen Herbst eröffnet wurde. Um 180 Millionen Schilling soll das Museum der Zukunft, vis à vis von Rathaus und Nibelungenbrücke am Fluß gelegen, zum Zentrum der modernen Technologien ausgebaut werden. Das Center zeigt den Besuchern, was es neues in der Technik-Welt gibt. So schickt das AEC seine Besucher mit der CAVE in die erste öffentlich zugängliche virtuelle Welt. Bis zu zwölf Personen wandern per Spezialbrille und Cybermouse über Wiesen und pflücken Blumen oder fürchten sich in einer Unterwasserinstallation vor heranschwebenden Haien. Der schnellste Großrechner der Welt von Silicon Graphics macht virtuelle Träume erstmals für jeden sichtbar.
Neben CAVE beherrscht das Internet und seine sämtlichen Spielarten das AEC. Hannes Leopoldseder, ORF-Landesintendant und einer der geistigen Väter von Ars Electronica und dem dazugehörigen Center, gesteht, dass „die Entwicklung des World Wide Webs seit 1993 für die Konzeption des AEC ein einziger Glücksfall war“, dies umso mehr, als die Bauentscheidung von Stadt und Land Oberösterreich bereits zwei Jahre zuvor gefällt wurde.
Über eine Hochschule für moderne Kommunikation im Center wird noch gestritten. Helmuth Gsöllpointner, Bildhauer, Initiator von Forum Metall und Forum Design Ende der siebziger Jahre und Urgestein der Linzer Kunstszene, mokiert sich über die „halbdurchdachte Umsetzung des Center-Konzepts. Solange es kein Studium für neue Medien in Linz gibt, solange wird das AEC mit all seinen Möglichkeiten genützt werden wie ein Bösendorfer von einem Schimpansen.“
Studenten auf Rädern
Die 500 Studenten der Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung (HfG) könnten durchaus noch Zuwachs vertragen. Trotz der knapp 20.000 Inskribierenden der Johannes-Kepler-Universität siecht das Linzer Kulturleben am fehlenden Unterfutter aus den Universitäten. „Die Uni spielt im Stadtleben so gut wie keine Rolle. Bei vielen Aktivitäten wird spürbar, dass Linz keine geisteswissenschaftlichen Studienfächer anbietet. Und Betriebswirte ticken in der Regel eben anders“, resümiert Ferdinand Öllinger, Schauspieler und Leiter des freien Theater Phönix. Die Johannes-Kepler-Universität wurde mitten ins Grüne auf den verlängerten Rücken von Urfahr gepflanzt, 25 bis 30 Minuten mit der Straßenbahn vom Stadtzentrum entfernt. „Wenn wir eine funktionierende Studentenszene hätten, wäre in der Stadt viel mehr möglich“, trauert Theaterboß Öllinger.
Das Fähnlein der jungen Kreativen halten in Linz die Studenten der Hochschule für Gestaltung aufrecht. Sie bilden das Rückgrat der schmalen, aber aktiven freien Kulturszene. Die Veranstaltungszentren „Posthof“ (gehört der Stadt Linz) und die auf eigenen Beinen stehende „Stadtwerkstatt“ bringen Unmengen von Musikbands, Tanzgruppen und Kleinkunst auf die Bretter. Die Kunststudenten sorgen auf und vor den Bühnen für einen Gutteil der Besetzung. Helmuth Gsöllpointner, Mitbegründer und ehemaliger Rektor der Hochschule, lässt über seine Hörer nichts kommen: „Unsere paar Studenten bewegen in Linz mehr als die abertausend an der Universität.“
Gedämpftes Blätterrauschen
Der avantgardistische Touch der Linzer Kulturpolitik hängt eng mit der eigentümlichen Konstellation der oberösterreichischen Medienszene zusammen. Mit Hannes Leopoldseder war der Intendant des ORF-Landesstudios und mächtigste Mann der Linzer Informationszunft federführend an der Ars Electronica und ihrem Umfeld beteiligt. Dadurch war positives Feedback in Hörfunk und Landesfernsehen garantiert. Daneben hielt sich die „Oberösterreich-Krone“ bis auf die Anfänge der Ars Electronica mit Kritik zurück und die „Oberösterreichischen Nachrichten“ als dritte Macht im Lande ob der Enns unterstützten den unprätentiösen Kurs der Kulturpolitik. Kulturmanager Siegbert Janko weiß, dass „sich die Politiker mit ihrer Zustimmung leichter getan haben, nachdem sie wussten, dass der ORF und die Tageszeitungen hinter der Sache stehen.“
In Linz hat die Masche mit Kultur als Vehikel zur Profilierung funktioniert. Mittlerweile verfügen über 77 Prozent der Linzer über eine positive Imageeinschätzung ihrer Heimatstadt. Der Komponist Peter Androsch: „Für die Linzer hat die Ars Electronica einen positiven Wert angenommen. Nach den vielen positiven Medienreaktionen aus dem Ausland ist die Skepsis einem gewissen Stolz gewichen.“
Die Stadtväter sind nach ihren Erfolgen wild entschlossen, auch empirisch zu erforschen, wie stark Computerkunst und Pflasterspektakel die Köpfe ihrer Mitbürger zu öffnen vermochten. 1979 entbrannte in Linz ein heftiger Streit über eine Metallplastik, die anlässlich der ersten Ars Electronica am Dach der Kunsthochschule an einem kranartigen Arm befestigt wurde und über dem Portal der Nibelungenbrücke schwebte. Das Werk von Laurits Ortner mit dem Namen Nike brachte die Linzer Seele zum Kochen. Nach zweijährigem Boulevardgetrommel gab die damalige Stadtregierung klein bei und verfrachtete die Plastik in einer Nacht-und Nebelaktion nach Frankfurt, wo sie die Hochschule für Architektur schmücken sollte. Jetzt legen die Linzer Politiker den Retourgang ein: Die Nike soll um 14 Millionen Schilling zum Lackmustest des Linzer Bewusstseins Wandels werden. Derzeit laufen die Verhandlungen auf Hochtouren, die Nike wieder in die Heimat zu holen – als Zeichen des Wandels.