Die Digitalisierung im Gesundheitsbereich ist nicht gerade der Brennpunkt von Stammtischdiskussionen. Schlagworte wie e-Rezept oder ELGA verfügen nur über ein überschaubares Begeisterungspotential. Seit dem gesellschaftlichen Durchmarsch der Smartphones zählen Applikationen für Bewegung und Sport zu den natürlichen Anwendungsgebieten: Entwicklungen wie die Hagenberger Anwendung „Runtastic“ werden weltweit millionenfach heruntergeladen und sind schon wegen ihres 220 Mio. teuren Verkaufs an eine Sportartikelfirma schlagzeilenwürdig. Etwas ruhiger wird es bei Anwendungen mit einem unmittelbaren medizinischen Anwendungsprofil: Dabei hilft das Smartphone, Krankheiten zu therapieren, zu informieren oder in Notfällen Hilfe zu holen. So tritt die von einem Wiener Unternehmen entwickelte App mySugr an, Diabetikern das Leben mit ihrer Therapie in den Griff zu kriegen. Die App ist Diabetes-Tagebuch, Insulinrechner und Diabetes-Coach in einem, liefert Reports und erlaubt die nahtlose Integration von Blutzuckermessgeräte verschiedener Hersteller. Zwei Millionen Nutzer in der EU und in den USA machen die österreichische Entwicklung zu einem Trendsetter im Bereich der digitalen Therapie-Apps. Mitte 2017 verkaufte Gründer Fredrik Debong und seine Gründerkollegen die Diabetes App mySugr an den Schweizer Pharmariesen Roche für einen kolportierten Kaufpreis von etwa 100 Mio. Euro.
Spezialisierte Entwickler
Eine reine Informationsplattform hingegen ist beispielsweise die Applikation „Herzstark in 3 D“, die von der Firma Novartis vertrieben und in Wien vom App-Dienstleister „allaboutapps“ mit einem österreichischen Ärzteteam entwickelt wurde. Das Konzept veranschaulicht die Problematik insuffizienter Herzkrankheiten für den Laien. Das Kernstück der App sind 3D Darstellungen des kranken und gesunden Herzens aus verschiedenen Perspektiven. Dazu gibt es Erklärungen zu Symptomen, Beschwerden und Therapien, aber auch Videos und Bilder zu gängigen Diagnoseverfahren wie EKG und Herzecho. International boomt der Markt. Folgt man dem Chef des Science Park Graz, Martin Mössler, dann wuchs der digitale Gesundheitsmarkt zwischen 2015 und 2020 weltweit von 80 auf 200 Milliarden Euro.
Deutsche Vorlage
„Der Markt für Gesundheitsapps ist in Österreich aktiv, aber überschaubar“, stellt Michael Rosenzweig-Steiner, Mitbegründer des Wiener Unternehmens allaboutapps, fest. Als eines von wenigen Software-Häusern Europas verfügt sein Unternehmen, das mit mittlerweile 70 Mitarbeitern Smartphone-Applikationen aller Art entwickelt, Zertifizierungen für Qualitätsmanagement und für Medizinprodukte. Und ist der 2011 abgespaltene Technologie-Ableger von Runtastic. Brancheninitiativen wie die zweitätige Konferenz „Health Tech Hub Styria“ in Graz sind bemüht, mehr Initiative und Kapital in den Bereich der Gesundheitsapps zu schleusen. Die nationale Sicht auf digital HealthCare bleibt aber eher eindimensional, angewandte Gesundheitsapps aus Österreich sind derzeit selten.
Bürokratisches eHealth-Verständnis in Österreich
eHealth ist in Österreich immer noch ein Thema von bürokratischem Naturell. Hier geht es bei digitalen Gesundheitstools praktisch ausschließlich um die digitale Vernetzung von Verwaltungs- und Informationsabläufen. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums verweist konsequenterweise auf die Maßnahmen von eCard bis hin zu E-Medikation, elektronischen Impfpass und ELGA. Ein weiterer Schritt werde die Integration von Primärversorgungsnetzwerken Anfang des Jahres sein. Von Gesundheitsapps auf Krankenschein ist dabei keine Rede, ebenso wenig wie von Videosprechstunden, die bei den deutschen Nachbarn durch die DVG erstattungsfähig werden und den Versorgungsengpass in Randregionen lindern sollen.
Deutscher Steilpass
„In Deutschland ist die Dynamik deutlich intensiver“, so App-Entwickler Michael Steiner. Einer der vielen Gründe für die lebendigere eHealth-Kultur in Deutschland war zuletzt das Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) vor Weihnachten. Kern des Gesetzes ist die Regelung, dass deutsche Ärzte in Zukunft zugelassene Gesundheits-Apps auf Kassenrezept verordnen können. Es geht dabei um Smartphone-Anwendungen, die zum Beispiel Diabetiker, Schwangere oder Patienten mit Bluthochdruck im Alltag unterstützen können. Schrittzähler und Work-out-Tracker gehören hingegen nicht dazu – sie zählen als Lifestyle-Produkte, weil sie keinem medizinischen Zweck dienen. Voraussetzung für eine Kassenübernahme ist die Zulassung der digitalen Gesundheitsanwendungen als Medizinprodukt der Klasse I oder IIa und die Aufnahme in eine Liste der verordnungsfähigen Anwendungen durch das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – nach einer ersten Prüfung auf Sicherheit und Qualität einschließlich Datenschutz. Die Hersteller müssen dann innerhalb eines Jahres den Nutzen der Anwendungen nachweisen.
Weites Einsatzgebiet
Der Laie verfügt oft nicht über genug Phantasie, um die Einsatzmöglichkeiten von Smartphone-gestützter Software zu überschauen. Smarte Blutdruckmessgeräte bzw. EKG-Sensorik in der Matratze, Sturzdetektion und Ganganalysen in Schuhen sorgen in naher Zukunft für eine 24-Stunden-Beobachtung von chronisch Kranken und Reha-Patienten. Die Sensorik generiert die Daten, Algorithmen werten sie aus. Der Arzt meldet sich aufgrund von veränderten Werten beim Patienten – nicht umgekehrt.
Die Matrix greift
Apple hat bereits vor drei Jahren Früherkennungssoftware in seinen Softwarestore gestellt, die anhand der Pulsfrequenz und der Bewegungsabläufe vor Epilepsie-Anfällen oder Herzattacken warnen – und bei Stürzen eine Notfallnummer verständigen. Das Bad Ischler Unternehmen Rewellio hat eine über Smartphone nutzbare Therapie-App entwickelt, die über Sensoren Bewegungsdaten des Patienten erfasst und so die einzelnen Therapien individuell an die Bedürfnisse und den Heilungsprozess anpasst. Die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten kann mit der Entwicklung deutlich intensiviert werden.
Die Software des Wiener Unternehmens RehaBuddy geht in eine ähnliche Richtung: Die Therapiesoftware erfasst durch am Körper tragbare Sensoren (z.B. instrumentierte Einlegesohlen) sämtliche Bewegungen der unteren Extremitäten. Der Reha-Fortschritt wird zu Hause quantifiziert, spielerische Übungen entwickelt und Feedback gegeben. Ärzte und Therapeuten können so die Prozesse bewerten und gegebenenfalls korrigieren, ohne dass der Patient in die Klinik oder in das Reha-Zentrum kommt.
Das Datenproblem
Heilende und helfende Algorithmen benötigen Daten. Eine ganze Menge davon. Je mehr Fälle einer Krankheit über Sensoren dokumentiert sind, umso treffsicherer sind die Voraussagen. Das Problem aus Sicht der Datenschützer: Wie geht man mit den individuell genau markierten Daten um? Sämtliche Daten der EKG-Apps sammeln sich über das aufzeichnende iPhone oder Apple Watch am Apple Hauptsitz in Cupertino im Silicon Valley. Rein theoretisch könnte dies beim nächsten Green Card-Antrag oder beim Visa-Wunsch für die USA zu einem Problem führen. Ähnlich ungesichert ist die Datenlage für Röntgenbilder, Laborwerte, Medikamentenpläne und andere Gesundheitsinformationen, die an die privaten App-Hersteller gehen. Für allaboutapps-Geschäftsführer Michael Rosenzweig-Steiner ist das Problem aber nicht unlösbar: „ELGA kann zum Datenpool für alle einschlägigen Gesundheitsinformationen werden.“ Wichtig sei nur, dass zertifizierte oder anderweitig geprüfte Privatunternehmen neben den Krankeneinrichtungen Zugang zu diesem anonymisierten Datenschatz erhalten. Steiner: „Nur so kann die digitale Medizin die nächsten Schritte setzen.“
App hilft gegen bipolare Störungen
Smartphone-Apps können selbst bei psychischen Erkrankungen helfen. Menschen mit bipolar affektiven Störung, früher als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet, durchleben wiederholt Höhenflüge und Abstürze mit oft schwerwiegende sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Das Grazer Start-Up meemo-tec kann mit der Smartphone-Applikation UP! die Eskalation der Krankheit präventiv verhindern. Dabei werden – mit Einwilligung des Patienten – etwa die physische Aktivitäten getrackt. Gehen, Laufen, die Schlafzeit, das Kommunikationsverhalten und die Work-Live-Balance werden aufgezeichnet. Daneben geben die Patienten selbst nur wenige psychometrische Daten wie beispielsweise die Stimmung ein. Hinter der digitalisierten Gesundheits-App steckt ein Algorithmus, der die Smartphone-Nutzung und Sensordaten statistisch über einen längeren Zeitraum erfasst und damit Lebensgewohnheiten protokolliert. Die App lernt die Personen so kennen. Das digitale Tagebuch soll gleichförmige Verhaltensweisen unterstützen – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Und wenn es doch zum Ausbruch kommt: Mit Hilfe der Begleit-App UP! Buddy können Vertrauenspersonen integriert werden, um Krisensituationen frühzeitig abzufangen.