Dr. Christine Seber

Da kommt jedes System an sein Ende“

Die Ordination der Murauer Allgemeinmedizinerin Christine Seber war in Österreich die erste, die auf Grund eines (negativen) Corona-Verdachtsfalles zwei Tage gesperrt werden musste. Sie erzählt, wie schnell sie in der schwierigen Situation auf sich allein gestellt war.  (ÄRZTEWOCHE/März 2020)

Frau Dr. Seber, was ist am Vormittag des 26. Februar in Ihrer Ordination passiert?

Dr. Christine Seber: Zu Beginn war alles unspektakulär. Die Sprechstunde hat begonnen wie immer. Die PatientIn hat sich in Begleitung an der Rezeption mit Unwohlsein und Infektsymptomen angemeldet und im Wartezimmer Platz genommen.

Wann wurde klar, dass dieser Besuch speziell werden würde?

Meine Mitarbeiterin wurde von den PatientInnen im Vorbeigehen im Wartezimmer angesprochen. Da sind an die zehn Minuten verstrichen. Der/die PatientIn ließ anklingen, dass er/sie mit dem Eigenverdacht auf Corona in die Praxis gekommen sei. Er/sie sei mehrfach den letzten Wochen beruflich in Italien gewesen, zuletzt in Mailand. Der/die PatientIn erwähnte, sich grippig zu fühlen. Meine Angestellte hat mich sofort informiert.

Ihre Reaktion?

Ich habe die Ordination sofort absperren lassen. Keiner konnte mehr herein, aber auch keiner aus dem Wartezimmer hinaus. PatientInnen, die keinen Kontakt mit der betreffenden Person hatten und sich nicht im gleichen Raum aufgehalten haben, wurden über einen Seiteneingang hinausgeschleust. Zwei Personen, die das Wartezimmer mit dem/der Verdächtigen geteilt hat, musste ich informieren, dass sie leider in der isolierten Ordination warten müssen. Das nächste war die Verteilung von Mundschutz an den/die Virusverdächtigen und die Begleitung. Die hatte ich in der Praxis vorrätig. Wir selber, ich und meine zwei MitarbeiterInnen, hatten zu dem Zeitpunkt ja noch keinerlei Schutzausrüstung erhalten.

Wann kommunizierten Sie die Situation nach außen?

Ich habe unmittelbar die Hotline 1450 gewählt und dem Kollegen die Situation klargemacht. Dort wurde ich an die Isolierstation des LKH Graz-West verwiesen.

Es gab kein Verfahren, das nach Ihrem Anruf in Gang gesetzt wurde?

Keine Rede. Da bleibt jeder Arzt sich selbst überlassen. Ich habe in Graz angerufen und vereinbart, dass wir den Transport nicht mit der Rettung durchführen, um den Infektionskreis nicht unnötig zu vergrößern. Der /die Virusverdächtigen sind dann mit dem eigenen PKW in das LKH gefahren. Sie haben in die Auflage eingewilligt, nirgends einen Stopp einzulegen. Die Betroffenen erhielten noch eine Telefonnummer, um bei Ankunft  in das Krankenhaus geordnet übernommen zu werden. So ist das dann auch passiert.

Wie hat sich die Situation bei Ihnen in der Ordination entwickelt?

Ich hatte ja noch zwei PatientInnen im Wartezimmer, die mit den Betroffenen in engeren Kontakt gekommen waren. Die haben telefonisch ihre Angehörigen informiert und weggeschickt, um ohne intensiveren Kontakt in ihre Häuser zurückzukehren. Unser aller Status war gleich: Die wartenden PatientInnen, ich und meine zwei Mitarbeiterinnen mussten auf das Testergebnis am nächsten Tag warten und in der eigenen Wohnung bleiben. Ich musste meine Ordination bis dahin geschlossen halten.  

Wie ging es für Sie weiter?

Ich habe meine Putzfrau angerufen und ihr gesagt, dass sie zu Hause bleiben soll. Und dann haben ich und meine Mitarbeiterinnen uns daran gemacht, die gesamte Ordination zu desinfizieren. Als ich danach zu Hause angekommen bin, habe ich das offizielle Email der Ärztekammer vorgefunden, wie in einem derartigen Fall vorzugehen sei. Da stand drinnen, was ich unter Tags schon von selbst umgesetzt habe.

Wann gab es Reaktionen?

Telefonanrufe von Freunden und Patienten haben mir binnen Stunden gezeigt, wie schnell die Information die Runde gemacht hat. Am Abend habe ich auf meiner eigenen Facebook-Seite den Verdachtsfall und die Schließung veröffentlicht. Irgendwann kam auch ein persönliches elektronisches Schreiben der Sanitätsdirektion in Graz, das ich bis auf weiteres meine Ordination zu schließen habe.

Wie war das Feedback aus der Patientenschaft?

Die Mitteilung auf Facebook war sehr wichtig. Die Murauer und Murauerin haben sehr verständnisvoll reagiert. Nachdem die Patienten wussten, was los ist, hat sich auch die Unruhe gelegt. Ich habe gesehen, wie wichtig rasche und ehrliche Information ist. Zu dem Zeitpunkt sind ja noch halboffizielle Empfehlungen kursiert, dass sich Virusverdächtige vertrauensvoll zu ihrem Hausarzt begeben sollen.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich kann nicht so tun, als ob nichts passiert sei. Vom medizinischen Standpunkt aus gesehen war die Schließung ohne Diskussion. Ich bin der tiefsten Überzeugung, dass die Corona-Thematik unverändert viel zu locker angegangen wird. Wenn in Norditalien Quarantänegebiete ausgerufen werden und zur gleichen Zeit 8000 italienische Gäste zum Villacher Fasching kommen, dann wird die Situation seitens der Politik und der Behörden unterschätzt.

Nachdem sich der Verdachtsfall nicht bestätigt hatte, konnten Sie die Ordination nach zwei Tagen wieder öffnen. Viel Lärm um nichts?

Im Gegenteil. Ich hatte Glück. Die Situation kann jederzeit wieder eintreten. Was passiert mit einer Ordination, in der ein Patienten positiv getestet wird? In dem Fall ist vorgesehen, dass die Ordination für 27 Tage geschlossen wird. Denn eines ist klar: Unter diesen Umständen und mit diesem Zeitdruck finde ich weder eine ärztliche noch eine administrative Vertretung. Wenn eine Praxis einen Monat lang schließen muss, wird dies für viele niedergelassenen Ärzte ein wirtschaftliches Problem. Dazu gibt es derzeit überhaupt keine Informationen.

Fordern Sie mehr wirtschaftliche Unterstützung für Österreichs Ordinationen?

Auf jeden Fall. Einer Ordination kommt bei einer Epidemie eine andere Rolle zu als einem normalen Gewerbebetrieb. Wenn wir uns in der Situation um unsere Patienten kümmern, gehen wir ein anderes Risiko ein als andere Berufszweige. Wenn diese Gefahr durch eine Schließung schlagend wird, bedeutet dies einen herben wirtschaftlichen Rückschlag. Und hier darf man uns nicht allein lassen. Wenn man die Situation durchdenkt, ist es bei einer richtigen Pandemie unwahrscheinlich, dass wir die Ordinationen aus Infektionsgründen überhaupt wieder aufsperren können. Was machen wir dann?

Wie stabil ist das österreichische Gesundheitssystem unter diesen Umständen?

Wenn sie jede Ordination mit einem befürchteten oder bestätigten Viruskontakt sperren und jede Krankenhausabteilung, die am Venezianischen Karneval teilgenommen hat, unter Quarantäne stellen, kommt jedes System an sein Ende. Wie schnell dies geht, sehen wir in Italien. Dass die Intensivbetten sofort voll sind, ist unter den Gegebenheiten natürlich. Die Situation wird in Österreich bei einer ähnlichen Ausbreitung auch nicht anders sein.

Erhalten Österreichs niedergelassene Ärztinnen und Ärzte ausreichende Unterstützung?

 Ich habe Anfang März erstmals von der Sanitätsbehörde ein Notfallpaket mit drei Garnituren mit Stufe 3-Mundschutz, Schutzkleidung und Handschuhe erhalten. Wenn ein Verdachtsfall eintritt, müssen ich und mein Team die Garnitur anziehen. Es ist besser als nichts. Aber recht viel mehr ist nicht passiert.

Wie soll es weitergehen?

Die Erstversorgung ist die große Frage: Wohin mit dem Patienten für den Schnellabstrich? Ich bin überzeugt, dass gerade am Land mobile Teams geschaffen werden müssen, die zu den Patienten nach Hause kommen und dort unter allen gebotenen Vorkehrungen den Abstrich machen. In der Stadt läuft dies schon so. Die Patienten müssen solange in ihren Häusern und Wohnungen bleiben können wie möglich. Sobald sie bei mir im Wartezimmer sitzen, haben wir gegen den Virus keine Chance mehr.

Dr. Christine Seber

Zur Person

Dr. Christine Seber ist Allgemeinmedizinerin im sterischen Murau und ausgebildete Fachärztin für Radiologie. Nach einer Laufbahn als Röntgenfachzärztin in Villach hat sie 2017 die Kassenordination in Murau übernommen: „Ich bin einfach gerne inmitten der Patienten“.