Für Stefan Pierer gehören Zoom-Interviews zum Tagesgeschäft. Aber er mag sie nicht, wie er erzählt. Mitarbeiter berichten, dass er sie früher vermieden hat, wo immer es ging. Ohne „human touch“ würden menschliche Kontakte farblos, wie er sagt. Aber auch mit dieser Freiheit ist es in Zeiten der Seuche vorbei. Der 64jährige Pierer hat sich für das INDUSTRIEMAGAZIN-Interview im großen Konferenzsaal von Pierer Mobility eingerichtet. Der Absolvent der Leobener Montan-Universität lenkt seine Unternehmensgruppe mit weltweit 10.000 Mitarbeitern (inkl. aller Beteiligungen) aus einem modernistischen Glasfassaden-Bau im Welser Gewerbeviertel. Wobei – soviel Häme muss sein – es nicht ganz klar ist, wo das Welser Gewerbeviertel beginnt oder endet. Pierer spricht aufgeräumt und ohne Scheu. Er gibt gerne Interviews. In einer Phase, in der weltweit ganze Wirtschaftsbereiche in Agonie liegen, kann die KTM-Gruppe auf ein stabiles Vorjahr und ausgesprochen positive Prognosen verweisen. Das stärkt das Selbstbewusstsein. Aktuell liegen die Sorgen Pierers darin, die Dynamik der laufenden Expansion nicht am heimischen Arbeitskräftemangel scheitern zu sehen. Corona hat Zweiräder in jeder Form weltweit zur Mangelware gemacht. Und KTM will liefern.
Herr Pierer, sind Sie schon geimpft?
Stefan Pierer: Noch nicht. Sobald ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht, werde ich mich selbstverständlich impfen lassen.
Verstehen Sie die Haltung von Impfskeptikern?
Jeder Mensch hat seine Entscheidungsfreiheit. Er muss dafür aber die Konsequenzen tragen. Ich bin überzeugt, dass man keine Menschen zum Impfen zwingen kann. Für unser Unternehmen ist die Impfung aber entscheidend. Wir verfügen über eine 90prozentige Exportquote. Da können Sie sich vorstellen, wie wichtig für uns das Reisen ist. Ohne Impfungen wird es nicht gehen.
Sollen geschützte Personen früher Restaurants besuchen oder per Flugzeug auf Urlaub fliegen können?
Man hat beim Thema Freitesten gesehen, wie sich positive Reize auswirken. Winkt ein Friseurbesuch, strömen die Menschen in die Teststationen. Die Ökonomie zeigt, dass Anreizsysteme den wirksamsten Lenkungseffekt haben. Zwangsmaßnahmen bewirken eher gegenteiliges. Ich bin sicher, dass sich hier die Trends ganz schnell umdrehen.
Wie hat Österreich aus Ihrer Sicht in der Pandemie-Bekämpfung abgeschnitten?
Ich habe die Pandemiestrategien in vielen Regionen und Länder unmittelbar beobachtet. Die Spannbreite reicht von den chaotischen brasilianischen Methoden über die Wildwest- Situation in Nordamerika bis hin zur sehr rigiden Vorgangsweise in Indien. Dazu kommen die verschiedenen Strategien in Europa, darunter auch der viel gescholtene schwedische Weg. Und wenn ich nach einem Jahr analysiere, dann glaube ich, ist eine Mischung aus dem schwedische Weg, wo man die Leute von Beginn an in Verantwortung bringt, und den österreichischen Maßnahmen die richtige Mixtur ergibt. Dieses permanente Auf und Zumachen, wie wir es in Zentraleuropa betreiben, bringt nichts. Sie zwingt die Menschen in eine Grauzone, wo bei hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten nur geringe gesundheitliche Effekte erzielt werden. Auswirkungen wie Demonstrationen und Verschwörungstheorien machen das Durcheinander nur unübersichtlicher.
Was kann die Lösung sein?
Unsere Gruppe beschäftigt weltweit 10.000 Menschen, 5000 davon in Österreich. Es sind einfache Dinge, die uns helfen: Hygiene, Distanz und Masken. Mit dieser Strategie sind wir die vergangenen zehn Monate perfekt durchgekommen. Wir haben derzeit zwölf Fälle bei 5 000 Mitarbeitern in Österreich. Das zeigt, dass man das Problem lösen kann. Geben Sie den Menschen Verantwortung und ausreichend Gelegenheit zum Testen, dann klappt das Containment.
Reicht der Appell an die Eigenverantwortung aus? Die bisherigen Erfahrungen on Österreich sprechen nicht dafür.
Am Ende des Tages werden wir ohne Eigenverantwortung nicht auskommen. Anders werden wir diese Pandemie nicht in den Griff kriegen.
Und wie entwickelt sich die Pandemie, wenn sich Wien und Tirol mit gegenseitigen Animositäten bedenken?
Da kommen wir in die Diskussion über den Föderalismus. Da zeigen sich Schwachstellen in Verwaltung und Organisation. Fakt ist, dass die analoge Verwaltung der Situation europaweit – da möchte ich Österreich nicht ausnehmen – nicht gewachsen sind. Föderale Strukturen kommen da nicht mit. Schauen Sie nach Deutschland, da ist es ähnlich. Der Bayern sieht die Lage anders wie die Herren in Westfalen und Sachsen sehen. Das ist zu kleinteilig gedacht.. Europa ist insgesamt bei der Bekämpfung massiv im Hintertreffen. Europa wird so als letzter aus der Krise kommen.
In Deutschland wird bei deutlich niedrigeren Daten ein wesentlich härterer Pandemie-Kurs gefahren. In Österreich diskutieren wir bei steigenden Inzidenzen über Öffnung von Gastronomie und Hotellerie. Leben wir in verschiedenen Welten?
Deutschland ist im Wahlkampf. Das gilt vor allem für Bayern, wo Ambitionen auf die Kanzlerschaft bestehen. Und es ist freilich eine Mentalitätssache. In Deutschland gibt es nur Weiß und Schwarz und nichts dazwischen. Ich glaube, dass die österreichische Lösung mit den kleinen, überschaubaren Schritten der richtige Weg ist. Wir nähern uns ja im Prinzip dem schwedischen Kurs an.
Ist es klug, zum Schutz der Gesundheit Schulen zu sperren, aber Lifte aufzumachen?
Ich trete immer dafür ein, zumindest die Grundschule offen zu halten. Kinder sind zwar Virenüberträger, aber das kann ich mit Testen in den Griff kriegen. Schweden liefert dabei das beste Beispiel. Wir bekommen jetzt eine junge Generation, die langfristigen Schaden nimmt, weil sie ein Jahr ohne Ausbildung auskommen muss. Das werden wir in Europa zu spüren kriegen.
Österreich hat bereit 31 Milliarden an Corona-Hilfen ausgegeben und ist damit das vergleichsweise großzügigste Land in Mitteleuropa. Gleichzeitig hatten wir im vierten Quartal 2020 den stärksten Wirtschaftseinbruch Europas. Macht Österreichs Regierung etwas falsch?
Wir haben einen hohen BIP-Anteil im Tourismus. So treffen uns die Rückgänge doppelt hart. Aber es stimmt: Absolut gesehen haben wir viel Geld für die Hilfen bewegt und trotzdem den Megatrend nicht beeinflussen können. Die Investitionen in die Kurzarbeit sind aber ihr Geld wert. Wir haben ein super Instrument, das funktioniert. Mit der Zeit zeigt es aber auch Schattenseiten.
Die da wären?
Je länger das Kurzarbeitssystem beibehalten wird, desto schwieriger wird es, Leute zu rekrutieren. Mit Fortdauer werden Strukturen verfestigt, die eigentlich aufgebrochen gehören. Wenn ein Unternehmen ein Kapazitäts-Thema hat, dann muss es sich anpassen. Dann kämen die Facharbeiter auf den freien Markt und würden von denen aufgesammelt, die Leute brauchen.
Wie geht es weiter?
Unser Problem ist das Recruiting. Ein kleines Beispiel: Seit Kinder unter bestimmten Umständen mit einem oder mehreren Nicht Genügend aufsteigen können, gib es keine Schulabbrecher mehr. Die haben früher oft den Weg zu uns gefunden. Jetzt fehlen uns die Lehrlinge. Wir wollen zwischen 100 neue Lehrlinge aufnehmen, aber das ist immens schwierig
Wie besorgt waren Sie in den Anfängen der Pandemie?
Für mich war bald klar, dass das motorisierte Zweirad durch Corona eine verschärfte Nachfrage erfahren hat. Der Trend zum Abstand hat uns voll in die Karten gespielt. Öffentliche Verkehrsmittel sind gesundheitlich verdächtig, die Reisemöglichkeiten wurden abgestellt. Im Freizeit und Sportbereich hat das Elektro Fahrrad stark profitiert, in Nordamerika hat das Segment des Gelände Motorrads stark zugelegt. Jedes unserer Motoräder wird nach dem Verkauf digital freigeschaltet. So können wir auf täglicher Basis den weltweiten Absatz zum Endkunden verfolgen. Wir waren uns schon Anfang Juni sicher, dass wir den Rest des Jahres voll produzieren können.
Wie sieht es für KTM 2021 aus?
Wir haben heuer ein Budget, das zweistellig über dem letzten Jahr liegt. Corona hin oder her, wir fahren volle Kraft. Aber wir brauchen Arbeitskräfte. Wir suchen dringend in Österreich 300 Leute. Aber wir haben aktuell im Bezirk Braunau eine höhere Beschäftigungsquote als im Jahr davor.
Wie wichtig ist für KTM das Thema E-Mobilität?
Wir stellen die Elektromobilität stark in den Vordergrund. Das technologische Niedrigvolt-Konzept im Hubraum-Bereich von 50 bis 125 Kubik ist sicherheitstechnisch viel leichter zu managen als der Hochvolt-Bereich, bei dem deutlich strengere Sicherheitsvorschriften greifen. Aber in Summe ist die E-Mobilität ein boomender Markt. Im Jahr 2025 plane ich im Bereich Elektro Fahrrad mit einer halben Milliarde Euro. Dazu kommen sich noch 200 Millionen Euro aus dem Bereich Mofa, Moped, Roller und Motorräder der Führerscheinklasse A1 (maximal 125 Kubik Hubraum mit maximal 15 PS, Red).
Wird der klassische Verbrenner-Markt nachgeben?
Abgesehen vom Strom-Bereich gehe ich davon aus, dass wir im angestammten Verbrenner-Bereich weltweit massiv zweistellig zulegen werden. Da habe ich eine klare Planung: Ich möchte hier in den nächsten fünf Jahren Kawasaki überholen und weltweit Nummer 3 werden. Die Rechnung haben wir noch offen. .
Wo wird KTM seine elektrifizierten Zweiräder produzieren?
In Österreich. Das Elektromobilitäts-Zentrum für das Zweirad wird gerade für 16 Millionen Euro in Salzburg hochgezogen. Dort werden die Entwicklung des Antriebs und die Vorausentwicklung für die Produkte entstehen. Die Überleitungen und die Serienproduktion werden am Standort Mattighofen hergestellt.
Es heißt, Harley Davidson sei derzeit zu haben. Wäre das eine Herausforderung für KTM?
Das würde nie gehen. Ich hatte bereits in den Anfang der Millenniumsjahre eine Kooperation mit Polaris (Hersteller von Schneemobilen und All Terrain Vehicles mit Sitz in Medina, Minnesota, Red.). Die flexible Zusammenarbeit, wie ich es mit dem indischen Partner Bajaj gewohnt bin, hat mit den Amerikanern nicht funktioniert. Da habe ich die Zusammenarbeit wieder aufgelöst. Harley hat markenpolitisch alles versäumt, was es irgendwie zu versäumen gibt. Die Zielgruppe des American Old White Men ist mittlerweile zu einer Minderheit geworden. Harley hat es nicht geschafft, die Jugend abzuholen. Und das schafft nur der Sport.
Die indische Gruppe Bajaj hält nach jüngsten Beteiligungsverschiebungen 48 Prozent an der Holding Pierer Mobility AG. Wird sich bei den Beteiligungen in absehbarer Zukunft etwas verändern?
Alles bleibt so, wie es ist. Die Familie Bajaj ist eine hoch angesehene indische Industriellen-Familie, die schon Mahatma Gandhis Revolution finanziert hat. Wenn man die Unternehmenszentrale betritt, steht man vor einem Ölbild von Mahatma Gandhi zusammen mit dem Gründer Jamnalal Bajaj. Das ist schon beeindruckend. Einmal im Jahr schaue ich gerne beim 82jährigen Senior-Chef Raul Bajaj vorbei und horche ihm zu. Aber mein Gegenüber im Management ist heute Rajiv mit 54: Mit Rajiv Bajaj ist eine persönliche Freundschaft entstanden. Ohne diese Partnerschaft würde mein Unternehmen nicht über die Größenordnung verfügen, die es jetzt hat.
Zuletzt eine Frage, die ich Ihnen nicht ersparen möchte. Sie wurden im Oktober im Ibiza-Untersuchungsausschuss zu einer ÖVP-Parteispende aus dem Jahr 2017 in Höhe von 440.000 Euro befr. Mit der Sicht von heute. Würden Sie das wieder machen?
Ja. Zu dem stehe ich. Ich habe im Ausschuss erklärt, was genau geschehen ist. Ich hatte auch die Möglichkeit, vor den Teilnehmern etwas Volkswirtschaft loszuwerden. Ich will nicht sagen, es war angenehm. Aber wann hat man sonst Gelegenheit, Parlamentariern das Thema Wettbewerb oder den Unterschied zwischen geschützter und ungeschützter Wirtschaft zu erklären. Ich hatte dabei eine gute Kommunikation mit Herrn Krainer (SPÖ-Fraktionsführer im Untersuchungsausschuss, Jan Krainer). Es gibt unterschiedliche politische Positionen, aber darüber kann man ja reden. Beim Reden kommen die Leute zusammen.
Der Krisen-Mann
Stefan Pierer liebt es, wenn seine Entscheidungen Wirkung zeigen: Als er Anfang Februar des Jahres seine Anteile am Nürnberger Autozulieferer Leoni von fünf auf zehn Prozent verdoppelt hatte, schoss die Aktie des angeschlagenen Unternehmens um nahezu 14 Prozent nach oben. Zuvor hatten praktisch alle wichtigen Aktienanalysten die Papiere auf „Verkauf“ gestellt. Das ist es, wie aus seiner Sicht Dinge laufen sollen. Als Stefan Pierer 1991 die insolvente KTM um knapp 4 Mio. Euro gemeinsam mit dem Finanzspezialisten Rudolf Knünz (heute GF der gruppeneigenen Unternehmens Invest AG) verkaufte die marode KTM 6000 Geländemaschinen pro Jahr. Dieses Jahr feiert Stefan Pierer das 30 Jahr-Jubiläum des Einstiegs in Mattighofen. Pierer beschäftigt bei KTM und seinen anderen Beteiligungen (Pankl, Pexco, Kiska, etc) fast 10.000 Mitarbeiter und erzeugte 2020 trotz Corona-Pause 270.000 Motorräder. Die Pierer-Gruppe soll auch in naher Zukunft familiengeführt bleiben: Pierer hat seinen zwei Söhne bereits Aufgaben zugedacht: Betriebswirt Alex ist Vorstandsmitglied der Pierer Industrie AG (zu 61,9 Prozent an der KTM Industries AG beteiligt), Berufsfotograf Clemens sitzt ebenfalls im Aufsichtsrat der Familienholding .