Bernd Ohnesorge: „Die Maschine wird nie den Menschen ablösen“
Zur Person: Bernd Ohnesorge (52) hat seine Karriere 1994 bei Siemens Medizintechnik gestartet und ist heute Präsident der Region Europe, Middle East and Africa (EMEA) bei Siemens Healthineers. Der Doktor der Biomedizintechnik ist für 6,8 Umsatzmilliarden im Konzern verantwortlich. Zuvor hatte er verschiedene leitende Positionen bei Siemens inne, unter anderem als Leiter der Business Units Magnetic Resonance (2011-2015) und X-Ray Imaging Product (2010-2011) und als Leiter von Siemens Healthcare China und Nordostasien (2006-2010).
Beschert die Pandemie dem Thema Health Care die Aufmerksamkeit, die es in der Vergangenheit nicht hatte?
Bernd Ohnesorge: Gesundheitssysteme sind deutlich ins Zentrum des Bewusstseins gerückt – sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch bei den Regierenden. Und es wird auch erkannt, welchen Beitrag wir als industrielle Gesundheitswirtschaft leisten. Die Pharma-Branche liefert in extremer Geschwindigkeit Therapien und Impfstoffe. Unsere Medizintechnik-Branche leistet mit PCR-Tests, Antigen-Schnelltests und auch mit bildgebender Diagnostik einen überall sichtbaren Beitrag. Ich bin zuversichtlich, dass wir an Stellenwert zugelegt haben. Das ist auch notwendig, denn Europa hat bei der Digitalisierung der Gesundheitssysteme einen deutlichen Nachholbedarf. Nicht alle Länder sind im Bereich eHealth schon so weit wie Österreich.
ELGA erregt Aufmerksamkeit?
Durchaus. Österreich verfügt seit mehreren Jahren über eine durchgängige Elektronische Gesundheitsakte. Deutschland kämpft noch damit. In Österreich konnte man mithilfe der ELGA das Impfmanagement schnell unterstützen. In Deutschland läuft das Impfmanagement noch sehr analog.
In Österreich sind die Erfahrungen in der Realität durchmischt. Viele ELGA-Assets wie das Befundaustauschsystem werden einfach nicht genutzt …
Ich will keine Details der österreichischen ELGA kommentieren und überlasse das den lokalen Experten. Ich kann nur festhalten: Die Vernetzung von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten oder Pflegeeinrichtungen und der Patientenschaft ist ein elementarer Vorteil. Dies ist in anderen Staaten mehr oder weniger – oder auch gar nicht – umgesetzt. Man muss den Wert dieser Technologie den Bürgerinnen und Bürgern und dem medizinischen Personal immer wieder vor Augen führen. Der Nutzen ist doch immens: Doppeluntersuchungen werden vermieden, man kann die Korrelation von Therapie und Medikation sofort bewerten, Kontraindikationen werden umgehend erkannt – und das alles durchgängig digital. Das ist ein sehr, sehr großer Wert für die Patientinnen und Patienten.
Ist der Datenschutz Hemmnis oder natürlicher Begleiter der Digitalisierung?
Der Aspekt des Datenschutzes ist zentral. Patientinnen und Patienten müssen die Hoheit über ihre Gesundheitsdaten behalten. Die Europäische Datenschutz-grundverordnung hat die Frage in meinen Augen sehr gut geregelt. Wenn man mit den Informationen sensibel umgeht, steht ihrer Nutzung wenig im Wege.
Was verspricht uns die Digitalisierung im Gesundheitssystem?
Ich spreche in dem Zusammenhang immer von drei Ausprägungen. Ein Trend geht in Richtung Vernetzung: Die elektronische Gesundheitsakte ist beispielsweise nichts anderes als eine Datenzusammenführung, die rund um den Patienten von einzelnen Institutionen generiert wird. Ein zweites Element der Digitalisierung ist die Telemedizin: Medizin passiert nicht nur vor Ort, sondern auch über Distanzen. Dafür braucht es entsprechende technologische Grundlagen – eine belastbare digitale Infrastruktur. Und beim dritten Entwicklungsstrang geht es um die Frage, wie technologische Verfahren der Künstlichen Intelligenz oder des maschinellen Lernens medizinische Fragestellungen unterstützen können. Hier reden wir von High-Tech-Geräten und sehr klugen Befundsystemen.
Was kommt dabei raus?
Als Technologiekonzern setzen wir auf zwei Aspekte. Wir stellen Algorithmen bereit, um den behandelnden Arzt oder die Ärztin zu unterstützen, schneller die richtigen Entscheidungen zu treffen. So entlasten wir auch das medizinische Personal. Eigentlich sollte die Zeit zunehmen, in der es sich den Patienten zuwenden kann. Wir wissen alle, dass der aktuelle Trend in genau die andere Richtung geht. Das muss sich umkehren. Und genau dabei kann Technologie helfen.
Werden Maschinen die Arbeit der Menschen übernehmen?
Hier entsteht zu Unrecht die Befürchtung, die Maschine übernimmt den Beruf des Arztes. Das streben wir nicht an und das sehen wir auch nicht kommen. Apparate werden nicht die Rolle des Arztes übernehmen. Aber hochintelligente Verfahren werden die Mediziner und Medizinerinnen in ihren Entscheidungen begleiten und unterstützen. Sie helfen, die Entscheidungen präziser und auf Basis aller verfügbaren Daten zu treffen und gleichzeitig bei der Patientenversorgung besser zu werden. Und es geht um mehr Zeit des medizinischen Personals für den Patienten. Aber die Maschine wird nie den Menschen ablösen.
Von welchen Zeithorizonten reden wir?
Die Digitalisierung ist schon überall. Allein unser Portfolio ist in der Beziehung mit mehr als 60 KI-basierten Lösungen prall gefüllt.
Werden wir in zehn oder fünfzehn Jahren genauso zu unserem Hausarzt gehen, wie wir es heute machen?
Ich glaube, dass wir hybride Verfahren nutzen werden. Es wird immer Momente geben, wo die persönliche Interaktion zwischen Arzt und Patient stattfinden muss. Für eine Therapie ist der direkte Kontakt unersetzbar. Es gibt aber Abschnitte auf dem Patientenpfad, für die kein direkter Arzt-Patienten-Kontakt zwingend ist: Vorbesprechung oder Nachsorge werden virtueller werden. Die Pandemie hat uns lernen lassen, dass man vieles virtuell und trotzdem werthaltig umsetzen kann.
Sie sind auch für Afrika zuständig. Wie erhalten auch weniger begüterte Staaten Zugang zu moderner Medizintechnik?
Hightech heißt ja nicht unbedingt, dass alles teuer sein muss. Hightech heißt, es ist intelligent. Der Zugang zur digitalisierten Medizin ist in Afrika noch nicht weit verbreitet. Wir glauben, dass gerade im Kontext der Digitalisierung große Chancen bestehen. Neben Technologie und Geld ist die Verfügbarkeit von Personal ein mindestens ebenso limitierender Faktor. Mit digitalen Methoden müssen
die behandelnden Ärzte und Radiologen nicht mehr länger direkt vor Ort sein. Digitale Werkzeuge machen Know-how auch dezentral verfügbar. Da sehe ich große Chancen für Staaten mit einem weniger dichten Gesundheitssystem.
Eine Frage, die ich Ihnen nicht ersparen will: Sie sind Aufsichtsrat der Konzern-Tochter in Österreich. Sie waren auch am Engagement der einstigen Stadträtin für Gesundheit und heutigen Siemens Healthineers-Managerin, Sonja Wehsely, maßgeblich beteiligt. Auf Grund dieser Optik wird Ihr Unternehmen immer wieder verdächtigt, eine zu große Nähe zu den Entscheidungsträgern in Wien zu pflegen. Zuletzt musste eine von Siemens Healthineers gewonnene Ausschreibung des Wiener Gesundheitsverbundes auf richterliche Anordnung wiederholt werden. Ist diese Personalpolitik ob der ständigen Beschuldigungen nicht kontraproduktiv?
Ich kann in dieser Frage zwar keinen Zusammenhang mit unserem Gespräch über die Wichtigkeit der Digitalisierung in den Gesundheitssystemen erkennen, werde aber dennoch gerne kurz auf die Fakten verweisen: Frau Wehsely hat als Strategieleiterin für die Region Europa, Mittlerer Osten und Afrika hervorragende Arbeit geleistet. Heute ist sie für die sogenannte Zone Zentral-/Osteuropa und damit für insgesamt 21 Länder verantwortlich. Für die österreichische Marktbearbeitung ist in ihrem Team Landesleiter Joachim Bogner zuständig. Für uns ist das von Wien aus betreute Osteuropa ein großer und wichtiger Markt. Darauf konzentriert sich Frau Wehsely. Sie erfüllt ihre Aufgaben hervorragend.